Paradoxe Interviews und Erwartungen – Alte Denkmuster

Zusammenfassung

Ein persönliches Essay über gesellschaftliche Doppelstandards, paradoxe Erwartungen im Berufsleben und die Frage, was echte Anerkennung und Talent wirklich bedeuten. Dr. Julia Tschirka reflektiert kritisch über den Wert von Erfahrung, den Umgang mit Andersdenkenden und warum es Mut braucht, die eigene Stimme zu erheben.

Dr. Julia Tschirka im Business-Outfit vor moderner Architektur – Expertin für Scientific Affairs, Kommunikation und pharmazeutische Projekte

Die Doppelstandards der Gesellschaft: über die Fotografie

Fotografie wird oft als Hobby belächelt – weil es jeder machen kann und angeblich verdient man damit kein Geld, selbst wenn man über jahrelange Expertise verfügt.
Heute ist Fotografie für alle zugänglich: Jedes Handy hat eine Kamera. Jeder kann ein Foto machen.

Ich fotografiere seit 20 Jahren – Porträts, Landschaften, Reisen.
Meine Technik, mein Auge, mein Umgang mit Menschen und Motiven habe ich in unzähligen Stunden geschult und immer weiter verfeinert.

Ich habe mit unterschiedlichen Kameras, bei jedem Licht, zu allen Jahreszeiten und in den verschiedensten Lebenswelten fotografiert.
Trotzdem wollen viele meine Arbeit und mein Talent nicht sehen oder anerkennen. Immer wieder stoße ich auf die Erwartung, dass ich meinen Job „aus Spaß“ mache – also auch kostenlos.
Weil ich kein Studio besitze und (bisher) nur in meiner Freizeit fotografierte, wurde oft gefragt: „Warum machst du das eigentlich, wenn du damit kein Geld verdienst?“
Diese Frage habe ich mir selbst auch gestellt – und beschlossen: Kein einziges Shooting mehr gratis.

Niemand fragt, wie viel Zeit und Geld in meinem Weg stecken.
Rechnen wir nach: Täglich etwa zwei Stunden Fotografie über 20 Jahre ergeben rund 15.000 Stunden – fast zwei Jahre ohne Pause.
Drei Kameras, neun Objektive: mindestens 15.000 Euro, Workshops und Messebesuche nicht eingerechnet.

Doch: Fotografie ist für mich weder Hobby noch Beruf – sie ist Leidenschaft. Ich sehe Details, Licht, Stimmungen, Geschichten.
Ich erzähle mit Bildern, was Worte nicht können.
Für jedes Shooting investiere ich nicht nur die Zeit vor Ort, sondern auch in Vorbereitung, Nachbearbeitung und Austausch mit dem Kunden. Aus einer gebuchten Stunde werden mindestens drei. Trotzdem denken viele, ich fotografiere „nur zum Spaß“.
Nein – ich bin längst kein Amateur mehr.
Ich bin Expertin.

Paradoxien im Berufsleben

Im Berufsleben höre ich oft: „Man muss viel arbeiten, um wirklich gut zu werden.“ Doch was heißt „viel“? Was heißt „gut“?

Ich habe fünft Jahre Biochemie studiert, inklusive Laborarbeit nach den Vorlesungen, am Wochenende, in den „Semesterferien“ und dann fünft Jahre an der Uniklinik geforscht.
Nebenbei habe Deutsch gelernt und perfektioniert, als Studentische Hilfskraft oder Programmorganisatorin gearbeitet.
Anschließend habe ich drei Jahre im Bereich der Medizinischen Information gearbeitet.
Insgesamt habe ich mich ca. 31.200 Stunden mit der Biochemie befasst. Das sind etwa 43 Monate.

Bei einem Vorstellungsgespräch für eine Position zum Businessaufbau in der DACH-Region für medizinische Produkte in einem Biotech-Unternehmen sagte der Manager zu meiner Gehaltsfrage folgendes: „Mit 20 Jahren Vertriebserfahrung würde ich Ihnen locker 90.000 Euro für diese Arbeit zahlen. Sie sind qualifiziert, bringen Verständnis für Pharma, Medizin und Kommunikation mit – aber Sie haben keine Vertriebserfahrung. Daher kann ich Ihnen maximal 70.000 Euro anbieten.“

Doch nach der 10.000-Stunden-Regel, die der Psychologe Anders Ericsson geprägt hat, reicht für echte Expertise rund ein halbes Jahrzehnt harter Arbeit: 40-Stunden-Woche, 220 Arbeitstage pro Jahr, in sechs Jahren ist man Experte.
Warum wird meine Erfahrung aus fünf Jahren Forschung und drei Jahren Medizinischer Information einfach ignoriert?
Warum zählen nur die berühmten „20 Jahre“, nicht aber tatsächliche Leistung und Transferfähigkeit?

Ein neuer Mitarbeiter bringt frische Ideen und Wachstum – oft mehr als jemand, der 20 Jahre routiniert dasselbe macht. Routine macht effizient, aber nicht automatisch besser oder innovativer. Nach dem Pareto-Prinzip genügen oft 20 Prozent Aufwand für 80 Prozent des Ergebnisses.
Warum also der Mythos vom „ewigen Experten“?

Sagen wir es offen: Viele wollen Spitzenqualität für lau – ob als Kunde bei einer Fotografin oder als Unternehmen bei Bewerbern mit Doktortitel.

Talent, Zufall, Marketing – das Mozart-Paradoxon

Kommen wir zum Thema Berufserfahrung zurück:
Was ist mit Mozart? Schon als Kind trat er auf, wurde gebucht, gefeiert und bezahlt. Er starb mit 35. Mit drei Jahren begann er zu spielen, mit sechs gab er Konzerte – seine „Erfahrung“ lag damals weit unter 10.000 Stunden, doch niemand zweifelte an seinem Talent. Warum? Weil Talent, Förderung, Herkunft, Marketing und Sponsoring oft mehr wiegen als reine Arbeitsjahre und das Können.

Doch niemand berücksichtigt oder prüft bei einem Bewerbungsgespräch, ob du ein Talent hast. Nicht wirklich. Viel mehr interessieren sich die Interviewer für die „bisherigen“ Erfahrungen und die Zahl der Erfahrungsjahre.

Mozarts Schwester Maria Anna war mindestens genauso talentiert und virtuos. Doch ab 18 durfte sie nicht mehr auftreten, wurde zur Hausfrau – gesellschaftliche Rollen standen der Karriere im Weg. Ihr Talent blieb im Schatten, weil Förderung und Öffentlichkeit fehlten. Sie spielte weiter – nicht für Geld oder Ruhm, sondern aus Liebe zur Musik. War sie weniger begabt als Mozart? Sicher nicht. Es fehlten nur Sponsor, Akzeptanz und Sichtbarkeit.

Jeder von uns hat Talente in sich. Wenn wir keine Zeit ihnen schenken und auch kein Marketing betreiben, sterben sie einfach mit uns.

Paradox, nicht wahr?

Wir argumentieren, wie es uns passt. Wir konstruieren Zusammenhänge, wo es keine gibt.
Viele vergessen, dass Hypothesen, Theorien und Annahmen nur eben das sind: Hypothesen und Theorien, eine Abbildung, aber keine absolute Wahrheit.

Wir halten uns für fortschrittlich – doch was tun wir?
Wir zitieren die Großen, kopieren Trends, folgen dem Mainstream.

Es bleibt meist ein Copy-Paste.

Innovation entsteht selten jedoch aus Nachahmung.

Meine erste Managerin sagte zu mir nach dem ersten Arbeitsmonat: „Julia, du bist anders als der Rest.“ Sechs Monate später war ich nicht mehr in diesem Unternehmen. Innovation? Ich glaube nicht, dass dieses Unternehmen innovativ war, wenn sie in andersdenkenden kein Wachstumspotenzial sehen konnten, sondern nur ein Problem.

Ich schreibe. Viel. Immer. Und seit Jahren. Weil Schreiben auch meine Leidenschaft ist. Und ich habe begonnen zu publizieren. Leise. Alleine. Über BoD.
In einem Interview für die Position in der Beratung fragte mich der Direktor: „Frau Tschirka, Sie publizieren. Vielleicht wollen Sie lieber Schriftstellerin und nicht Beratrin werden?“
Wo genau liegt das Problem von diesen Menschen?
Wovon konkret haben Sie denn Angst, wenn ich vor Ihnen sitze? Mit meinen vielfältigen Interessen und Stärken?

Ein Bekannter sagte einmal zu mir:
„Du kannst doch nicht behaupten, du schreibst so ähnlich wie Richard Bach und verstehst seine Sprache. Das ist arrogant – Richard Bach ist bekannt, du bist dagegen ein niemand.“
Heißt es, solange ich unbekannt bin, darf ich mich nicht mit den Großen messen? Wieso eigentlich?
Auch sie waren einmal Unbekannte, bis jemand ihr Talent erkannte.
Und übringens, Richard Bach hat nicht sein ganzes Leben nur mit dem Schreiben verbracht.
Er war Pilot, Autor von Kurzgeschichten und Romanen. Er lebt übringes noch.
Auch Tschechow saß nicht einfach an seinen Geschichten tags und nachts. Nein, er war in der ersten Linie Arzt.
Also, wo ist das Problem, Beraterin und Schritstellerin? Fotografin und Wisschaftlerin zu sein?
Warum werden die Genies von früher heute für ihre Vielseitigkeit bewundert, aber mir wird stattdessen keine Anerkenneung, sondern nur „fehlender Fokus“ vorgeworfen?
Doppelmoral, nicht wahr?


Vielleicht ist das größte Paradox

Wir wollen Neues – doch die meisten drehen sich nur im Kreis und scheuen sich vor andersdenkenden, vor innovativen, vor Kritikern, vor Kreativen.

Was wäre, wenn wir den Mut hätten, auch die Andersdenkenden wirklich groß werden zu lassen?

Und zwar nicht nur mit der Meinung, die gerade angesagt und nachgeplappert wird. 

Nicht den Themen den Raum geben, die sowieso bereits zur Popkultur und zum Mainstream wurden. 

Sondern dem Echten. Dem Wahren. Dem Talent. Dem Enthusiasmus. Der leisen, aber einer klaren neuen Stimme? 

Wie wäre es damit? 

Nachtrag – und eine persönliche Anmerkung

In einem Interview fragte mich ein HR-Kollege, wie es mit meinem Deutsch in Schrift steht – ich würde ja mit Akzent sprechen. Und sie hätten eben „hochkarätige Kunden“, da müsse die Sprache perfekt sein.

Ich spreche vier Sprachen fließend. Aber Akzent? Der wiegt für manche mehr als Kompetenz.

Auch das ist ein Paradox – und leider für mich in Deutschland der Alltag.
Und das obwohl ich hier Abitur, Bacherlor, Master und Promotion abgeschlossen habe.
Obwohl mein zweiter Nachnahme Brendel ist.

Obwohl ich auf Deutsch publiziere.
Obwohl ist selbst auch Deutsche bin … 
Der Akzent und der ukrainische Nachnahme… sie stören immer noch in den Interviews.

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